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Der Standard: Intensive Debatte um mehr Pflichten für Flüchtlinge und Migranten

Die ÖVP arbeitet an einer "Leitkultur" – und auch die Länder überlegen Maßnahmen, um Migranten über hiesige Sitten zu informieren, Sanktionen inklusive

Per Unterschrift sollen sich in Zukunft Asylwerberinnen und Asylwerber in Vorarlberg zu Integrationsleistungen verpflichten. Dazu zählen die Teilnahme an Deutsch- und Wertekursen sowie gemeinnützige Tätigkeiten. „Vorarlberger Kodex“ nennt das Landeshauptmann Markus Wallner (ÖVP) – dieser wurde bereits im Herbst angekündigt und soll ab 1. Juni jedem Flüchtling im westlichsten Bundesland vorgelegt werden.

Auch rund 1750 Flüchtlinge, die sich bereits in der Grundversorgung des Landes befinden, können den Kodex unterschreiben. „Können“ ist das zentrale Stichwort, denn der Kodex ist freiwillig – Asylwerberinnen und Asylwerbern steht es also frei, die Unterschrift auch einfach abzulehnen. Sanktionen sind bei einer Verweigerung vonseiten der Landesregierung vorerst keine geplant.

Man wolle das Modell zuerst für ein paar Monate testen, bekräftigte Wallner am Montag im Ö1-Morgenjournal. Häufen sich die Verweigerungen, soll es zu einer Gesetzesverschärfung kommen. Angedacht ist eine Kürzung des Taschengeldes (momentan 40 Euro im Monat), das Asylwerberinnen und Asylwerber im Rahmen der Grundversorgung bekommen. Die Gesetzesänderung sei vorbereitet und könne innerhalb von wenigen Wochen umgesetzt werden, sagte Wallner. Doch wie sinnvoll ist das Vorarlberger Modell?

Kohlenberger: Taschengeld streichen „einigermaßen zynisch“

Eine wichtige Frage sei, ob das Land die Kurse, zu denen sich die Asylsuchenden verpflichten, und die gemeinnützigen Tätigkeiten, die sie ausüben sollen, auch anbieten kann, sagt dazu die Migrationsforscherin Judith Kohlenberger im Gespräch mit dem STANDARD. Tatsächlich können Asylwerberinnen und Asylwerbern mit hoher Anerkennungswahrscheinlichkeit laut Integrationsjahrgesetz zwar Integrationshilfen wie Sprach- und Integrationskurse angeboten werden. Das gilt aber nur „nach Maßgabe vorhandener finanzieller und organisatorischer Ressourcen“.

Vorarlberg, so Kohlenberger, verfüge an sich über ein „gut aufgestelltes Integrationswesen“ – das jedoch hauptsächlich anerkannten Flüchtlingen zugutekomme. Zudem seien die Sondermittel für Integration wie in ganz Österreich, so auch im westlichsten Bundesland, seit 2015 stark zurückgefahren worden.

Insgesamt sieht die Migrationsexpertin die „Vorarlberg Kodex“-Diskussion in einer Reihe mit populären anderen asyl- und migrationspolitischen Forderungen: „Häufig wird oberflächlich argumentiert – und damit an Problemen in der Praxis vorbei.“ Was etwa das Deutschlernen angehe, hätten etliche Geflüchtete aufgrund ihrer belastenden Erfahrungen auf der Flucht beträchtliche Lernschwierigkeiten: „Sie besuchen einen Kurs nach dem anderen, aber erlernen die Sprache nicht.“ Hier mit Sanktionen wie Geldentzug zu reagieren sei kontraproduktiv.

Dasselbe gelte auch für das in Vorarlberg geplante Streichen des Taschengelds im Falle von Unterschriftsverweigerung. Erkenntnisse aus der Armutsforschung zeigten, dass bei Menschen, die nur ihre unmittelbarsten existenziellen Bedürfnisse erfüllen könnten, weiterer Druck wenig ausrichte. Die monatlich 40 Euro einzubehalten sei zudem „einigermaßen zynisch“.

„Es gibt ein Problem“, sagt Wiederkehr

In Wien will Integrationsstadtrat Christoph Wiederkehr von den Neos neue Regeln für das Zusammenleben mittels Grundwerten und Grundprinzipien definieren. Die Vielfalt der Gesellschaft in der wachsenden Stadt Wien sei positiv, zuletzt sei aber „eine Reibung sehr deutlich geworden“, sagte der Wiener Neos-Chef. So seien ein zum Teil mittelalterliches Frauenbild, Rassismus, Antisemitismus, Demokratiefeindlichkeit oder Hass auf LGBTIQ-Personen in der Stadt „nicht hinnehmbar“, wie es der Vizebürgermeister formulierte. Das betreffe nicht nur die Gruppe der zugewanderten Menschen. „Wien, es gibt ein Problem. Wir müssen reden. Und wir müssen entschlossen handeln“, sagte Wiederkehr.

Als Resultat dieses Befundes kündigte er unter dem Slogan „Prinzip Wien“ einen „Wertekonvent“ an, bei dem Prinzipien des Zusammenlebens und auch Konsequenzen bei Verstößen erarbeitet werden sollen. Eilig hat es Wiederkehr nicht: Der Konvent soll erst im Herbst über die Bühne gehen. Außerdem braucht Wiederkehr bei konkreten Beschlüssen die Zustimmung der Bürgermeisterpartei SPÖ.

Der Prozess sei laut dem Neos-Chef ergebnisoffen und richte sich an Religionsgemeinschaften und die Zivilgesellschaft. Wiederkehrs Beitrag zur Diskussion: Deutsch lernen sei für alle nicht nur optional, sondern müsse zur Pflicht werden. Es brauche Respekt vor Pädagogen und Pädagoginnen. Und: Gesetze würden vom Staat gemacht und nicht von Gebetsbüchern – ein Verweis Wiederkehrs auf Protestierende in Hamburg, die zuletzt auf das Kalifat als „die Lösung“ verwiesen haben.

Neu ist Wiederkehrs Feststellung nicht: Er hatte bereits im November 2023 ähnliche Probleme benannt und einen österreichweiten Konvent gefordert, um Regeln des Zusammenlebens samt Konsequenzen für jene, die sich nicht daran halten, festzulegen. „Seitdem ist leider nichts geschehen“, kritisierte er die türkis-grüne Bundesregierung. Die ÖVP führe stattdessen eine scheinheilige Debatte über Leitkultur und verwechsle Werte mit Folklore.

Verpflichtende Sommer-Deutschkurse gefordert

So verlangt Wiederkehr zweiwöchige verpflichtende Sommer-Deutschkurse für jene Schülerinnen und Schüler, die diese benötigen. Die gesetzliche Verankerung und mögliche Sanktionen bei Nichtbeachtung liegen aber beim Bund. Der pinke Chef fordert zudem die Kooperation von Eltern ein – und Konsequenzen, falls diese bei Problemschülern nicht in die Schule kommen. Möglich seien die Reduktion von Sozialleistungen oder Strafzahlungen. Konkret wurde Wiederkehr nicht.

Auch im Bund wird über neue Integrationsmaßnahmen nachgedacht – oder wie es die ÖVP nennt: über die „österreichische Leitkultur“. Bundeskanzler Karl Nehammer (ÖVP) versteht darunter eine Reihe an Wertvorstellungen, die gesetzlich verankert werden und das „nationale Kulturgut“ definieren sollen. Mit der Erarbeitung der „Leitkultur“ ist Integrationsministerin Susanne Raab (ÖVP) beauftragt. Im März gab es bereits eine erste Runde von Expertinnen und Experten, die zu dem Thema debattierten. Auch eine wissenschaftliche Studie soll noch diesbezüglich in Auftrag gegeben werden, heißt es aus dem Ministerium. Wann erste Ergebnisse präsentiert werden, blieb auf Anfrage vorerst offen.

Raab reagierte am Montag auf Wiederkehrs Vorstoß: „Nachdem die Rufe aus dem Bund jahrelang ignoriert wurden, ist der offenbare Kurswechsel weg von einer verantwortungslosen Willkommenspolitik in Wien ausdrücklich zu begrüßen“, sagte sie. Gleichzeitig kritisierte sie Wien dafür, dass Wien mehr Sozialhilfe an subsidiär Schutzberechtigte zahle als andere Bundesländer. Auch Wiens ÖVP-Chef Karl Mahrer meinte, dass Wien die Verantwortung auf den Bund abwälze. Die Stadt müsse die „überbordenden Sozialleistungen“ für Asylwerber, subsidiär Schutzberechtigte und Asylberechtigte kürzen.

Niederösterreich mit eigenen Vorschlägen

Aufgegriffen hat den Kodex im vergangenen Jahr auch die niederösterreichische Landesregierung. Die ÖVP unter Landeshauptfrau Johanna Mikl-Leitner präsentierte angelehnt an das Vorarlberger Modell die sogenannte Null-Toleranz-Initiative: Unter anderem forderte Mikl-Leitner verpflichtende Wertekurse im Zuge der Einbürgerung, stärkere Integrationsmaßnahmen in den Schulen und strengere Kriterien für die Verleihung der Staatsbürgerschaft.

Einen kleinen Teil ihrer Initiative konnte Mikl-Leitner im Zuge der Landeshauptleutekonferenz im April auch umsetzen. Für Menschen, die die österreichische Staatsbürgerschaft erhalten wollen, sind verpflichtende Besuche von KZ-Gedenkstätten vorgesehen – darauf einigten sich die neun Länder.

Irene Brickner, David Krutzler, Max Stepan | Der Standard

 

 

 

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