Migration ist zweifellos eine schwierige Erfahrung, vor allem wenn sie von dramatischen Umständen begleitet wird. Ein Wohnortwechsel bedeutet eine Veränderung in allen Bereichen, von den Verkehrsregeln bis zum engsten Freundeskreis. Das Leben in einem neuen Land muss man einfach lernen, Schritt für Schritt, wie ein Kind, jede*r in ihrem*seinem eigenen Tempo. Aus diesem Grund sollte der erste Punkt des Handbuchs lauten:
Alles zu seiner Zeit
Zu seiner Zeit, also wann? Auf diese Frage gibt es keine eindeutige Antwort. Das Tempo, in dem wir eine Sprache lernen und uns an eine neue Umgebung gewöhnen, ist eine sehr individuelle Angelegenheit, die von körperlichen, geistigen und intellektuellen Faktoren beeinflusst wird. Ich gewöhne mich langsam daran, dass ich der spezifischen Melodie des österreichischen Akzents länger lauschen muss als es mein Freund tut, der das sogenannte musikalische Ohr hat.
Als Freiwillige in einer Organisation, die Migrant*Innen hilft, habe ich das unglaubliche Privileg, ihre Träume und Ängste kennen zu lernen. Kürzlich traf ich einen jungen Syrer. Er lebt jetzt seit einigen Monaten in Österreich und hat sich in dieser Zeit die Grundlagen der Sprache sehr gut angeeignet. Zurzeit besucht er einen A2-Kurs, aber… er macht sich bereits Gedanken darüber, was ihn bei C1 erwartet. Es ist gut, Ziele und Ambitionen zu haben, aber noch besser ist es, sich auf die aktuelle Aufgabe zu konzentrieren, anstatt sich über das zu sorgen, was noch vor uns liegt. Wie ein weises Buch sagt: Es genügt, dass jeder Tag seine eigene Last hat. Ja, Last, denn Auswanderung ist selten ein Vergnügen. Es ist in der Regel harte Arbeit, vor allem an den eigenen Schwächen. Nicht jedem*r fällt es leicht, diese Tatsache zu akzeptieren. Es sollte im Ausland schöner sein, es sollte besser sein, aber es ist oft… nur mittelmäßig. Deshalb sollte der nächste Punkt des Leitfadens für Neueinsteiger lauten:
Lassen Sie sich helfen
Wenn ich ein Glossar für Einwanderer erstellen würde, würde ich auf jeden Fall das Wort „Frustration“ mit all seinen möglichen Konjugationen aufnehmen. Es ist frustrierend, wenn es eine Sprachbarriere gibt, es ist frustrierend, wenn es bürokratische Hürden gibt, es ist frustrierend, wenn man wieder ganz von vorne anfangen muss, es kann sogar frustrierend sein, wenn die Waren in den Geschäften keine Ähnlichkeit mit denen haben, die man zu Hause gesehen hat. Ein Kulturschock trifft jede*n früher oder später. Für die einen ist es nur eine unangenehme Übergangsphase, für die anderen kann es der Beginn einer Depression oder einer anderen psychischen Erkrankung sein, von der Einwanderer laut Statistik häufiger betroffen sind als Einheimische. Wenn Sie in Österreich oder einem anderen deutschsprachigen Land leben, haben Sie das Glück, dass es ein ausgeprägtes Bewusstsein für psychische Gesundheit gibt, so dass es kein Problem sein sollte, richtige Hilfe zu finden, sogar in der eigenen Sprache.
Für viele von uns sind psychische und emotionale Probleme, Persönlichkeitsstörungen und Süchte ein beschämendes Problem, das wir nicht nur vor unseren Angehörigen verbergen, sondern vor allem aus unserem eigenen Bewusstsein verbannen wollen. Eine solche Haltung bringt in der Folge mehr Probleme als Nutzen. Unterdrückte Störungen werden früher oder später mit verdoppelter Kraft explodieren und uns selbst und unseren Umkreis schädigen. Es lohnt sich wirklich, achtsam mit sich selbst umzugehen und sich um die eigene Gesundheit zu kümmern, denn, und hier ein weiteres Kapitel des Ratgebers:
Sie sind einzigartig
Manchmal ist es schwer zu glauben. Immerhin leben allein in Wien fast 2 Millionen Menschen, von denen mehr als 30 Prozent Ausländer sind. Worin besteht also diese Einzigartigkeit? Alles! Ihre Erfahrungen und Fähigkeiten sind wichtig und einzigartig. Niemand außer Ihnen kann Ihre Geschichte erzählen, und sie ist zweifelsohne sehr interessant. Machen wir uns nichts vor, wahrscheinlich wird keiner von uns ein zweiter Rafik Schami oder Yusra Mardini werden. Aber wir haben sicherlich Menschen um uns herum, für die wir wichtig sind – wichtiger als Schami oder Mardini. Das kann ein Kollege aus einem Sprachkurs sein oder eine ältere Person, um deren Hund wir uns kümmern.
Aber damit andere Ihre Einzigartigkeit entdecken, können Sie nicht passiv darauf warten, dass jemand so nett ist und fragt: „Was möchten Sie heute mit anderen teilen?“. Und hier ist der letzte Punkt des Ratgebers „Wie man im Exil nicht verrückt wird“:
Gehen Sie auf Menschen zu, engagieren Sie sich
Ich denke hier vor allem an Freiwilligenarbeit, aber nicht nur. Viele Neuankömmlinge (und ich bin da keine Ausnahme) neigen dazu, sich in ihrer eigenen kleinen Blase abzuschotten – morgens lesen sie die Nachrichten aus ihrem Heimatland, dann telefonieren sie mit ihren Verwandten, die noch dort sind. Nur der Körper ist emigriert, der Geist aber noch nicht. Das ist der Charme des Internets, das einerseits den Kontakt mit geliebten Menschen am anderen Ende der Welt erleichtert, uns aber andererseits von den wirklichen Problemen und von dem, was in unserer unmittelbaren Umgebung wichtig ist, entfernt.
Es ist jedoch schwierig, sich in der neuen Realität zurechtzufinden, wenn wir nicht anfangen, hier und jetzt bewusst zu leben. Anstatt beim Morgenkaffee gedankenlos auf Facebook zu surfen, lohnt es sich also, das Internet zu nutzen, um herauszufinden, ob jemand in der Nachbarschaft Hilfe braucht, ob eine Nichtregierungsorganisation Freiwillige sucht oder ob es in der Gegend kostenlose Sportangebote gibt. Die Einbindung in das Leben der örtlichen Gemeinschaft ist eine der besten Möglichkeiten, neue Menschen kennen zu lernen, was im Erwachsenenleben nicht einfach ist, und schon gar nicht, wenn man auswandert. Aber wie die Forschung zeigt, bringt sie auch sehr greifbare Vorteile für unsere psychische Gesundheit, denn ein Mensch braucht einen anderen Menschen. Er braucht auch ein Ziel, das das Leben erfüllter macht.
Die Auswanderung ist eine verrückte Erfahrung. Es ist nicht verwunderlich, dass wir uns in einem fremden Land, das unser neues Zuhause geworden ist, überfordert und irgendwie unpassend fühlen. Für mich persönlich ist die Auswanderung eine Zeit mit vielen Höhen und Tiefen. Ich will ehrlich zu Ihnen sein – es gibt vor allem Tiefen, und ich kenne alle Fehler, die ich in diesem Text erwähne, aus meinem eigenen Leben. Ich wünschte, jemand hätte mir diesen einfachen Rat vor zwei Jahren gegeben, bevor ich nach Wien gezogen bin: Alles zu seiner Zeit, lassen Sie sich helfen, Sie sind einzigartig, gehen Sie auf Menschen zu, engagieren Sie sich. Vielleicht wäre der Neubeginn im Ausland dann etwas weniger frustrierend gewesen.
Welchen Rat möchten Sie Neueinsteigern mit auf den Weg geben? Was würden Sie selbst gerne hören, bevor Sie ins Ausland gehen? Schreiben Sie in den Kommentaren.